(pri) Die Christdemokraten gehen mit zwiespältiger Befindlichkeit in den letzten Parteitag vor der Bundestagswahl 2017. Beim Kongress in Essen geht es Angela Merkel vor allem darum, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen – bei den verunsicherten Konservativen ebenso wie bei enttäuschten Gefolgsleuten.
Rein äußerlich wird sich der am Nikolaustag beginnende Wahlparteitag der CDU in Essen kaum von seinen Vorgängern unterscheiden. Die Vorsitzende wird wieder »eine große Rede« halten und dafür mit langem Beifall, gar Standing-ovations belohnt werden. Das anschließende Wahlergebnis liegt erneut nahe der 100 Prozent, und am Ende wird das Partei-Establishment samt seinen medialen Hilfstruppen eine »große Geschlossenheit der CDU« konstatieren. Das war so bei Helmut Kohl und auch stets bei Angela Merkel, die bei der Wahl zur Parteivorsitzenden nur einmal unter der 90-Prozent-Marke blieb und als höchstes Ergebnis 97,9 Prozent verbuchte.
Diesmal aber dürfte dieses sorgsam inszenierte äußere Bild mehr noch als sonst nur die halbe Wahrheit widerspiegeln, denn die CDU ist derzeit von großer Unruhe erfasst. Viele vor allem ältere Mitglieder fühlen sich in ihr nicht mehr zu Hause und stellen wesentliche Aspekte der Merkelschen Politik in Frage. Sie fürchten um die Identität der ihnen vertrauten Partei, vor allem aber um die Mehrheit an der Wahlurne, die sie durch das Aufkommen und den Erfolg der AfD ernsthaft gefährdet sehen.
Und tatsächlich hat ja Angela Merkel in ihrer jetzt 16-jährigen Amtszeit als CDU-Vorsitzende das Koordinatensystem der Partei deutlich verschoben – von rechts zur Mitte hin; viele sagen sogar: nach links und bezeichnen dies als »Sozialdemokratisierung«. Aber natürlich war dies keine ideologisch geprägte Kursänderung, sondern schlicht das Ergebnis Merkelschen Pragmatismus. Sie beschrieb ihn einmal mit erstaunlicher Offenheit: »Mal bin ich liberal, mal bin ich konservativ, mal bin ich christlich-sozial – und das macht die CDU aus.« Entsprechend reagierte sie auf Stimmungen im Wahlvolk, passte die Politik der CDU dem Mainstream an und kassierte auf diesem Weg alte Gewissheiten der traditionellen CDU-Klientel. Sie stieg aus der Kernenergie aus, schaffte die Wehrpflicht ab, akzeptierte Ganztagsschule, Kita-Erziehung und gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften, führte den Mindestlohn ein. Und warb schließlich für ein freundliches Gesicht gegenüber den aus Kriegsgebieten Flüchtenden.
Doch nicht nur im Inhalt, auch in der Methode bevorzugte Merkel den pragmatischen Weg des geringsten Widerstands. Sie ließ der innerparteilichen Diskussion über ihren Kurs wenig Spielraum, verwies zur Begründung gern auf die in Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung gewachsene Kompliziertheit der Probleme und leitete daraus eine vermeintliche Alternativlosigkeit ab. Sie agierte zumeist ohne konzeptionellen Hintergrund, als eine »Hier-und-jetzt-Kanzlerin«, wie es Gerd Langguth, einer ihrer Biographen, einmal nannte. Damit überforderte sie viele in der CDU und vor allem der CSU, weshalb ihr in deren Vorsitzendem Horst Seehofer ein veritabler Gegner erwuchs, der durch ihre Politik schon mal die »Existenz von CDU und CSU« bedroht sah.
Aber auch in der CDU wuchs die Kritik. Die einen verließen gleich ganz die Partei und gingen nicht selten zur AfD. Andere organisierten sich in konservativen Netzwerken, so im »Berliner Kreis«, in dem auch Abgeordnete des Bundestages und aus Landtagen mitarbeiten. Es gibt konservative Kreise in einzelnen Bundesländern, und in der Partei artikulierten sich vor allem der Wirtschaftsflügel und die Junge Union Merkel-kritisch. Hauptsächliches Thema war die aktuelle Flüchtlingsproblematik.
All dies blieb nicht ohne Wirkung auf die Parteivorsitzende, zumal ihre Kontrahenten schnell mit einfachen Lösungen für komplizierte Probleme aufwarteten, während Merkel ihre demonstrative Zuversicht (»Wir schaffen das!«) kaum durch überzeugende Maßnahmen zu untermauern verstand. Folge war die offene oder verdeckte Akzeptierung immer schärferer Regeln gegen Flüchtlinge, was auch bei jenen, die einer Modernisierung der CDU aufgeschlossen gegenüberstehen und die anfängliche Willkommenskultur der Kanzlerin guthießen, zu Enttäuschung führte. Die Kehrtwende, die Angela Merkel gerade in letzterer Frage vollzog, ließ ihr freundliches Gesicht inzwischen zur hässlichen Fratze erstarren. Seehofer nannte dies nun eine »erfreuliche Entwicklung« und konstatierte »große konkrete Schnittmengen zwischen den Unionsparteien … bei der Flüchtlingsfrage«.
Sie geht die CDU mit zwiespältigen Gefühlen in den Parteitag, und die Vorsitzende sieht sich vor der Aufgabe, sowohl bei den Konservativen als auch der enttäuschten Anhängerschaft um neues Vertrauen zu werben. Wie die ersten Regionalkonferenzen der Partei zeigten, könnte sie dabei eine Doppelstrategie verfolgen. Im schleswig-holsteinischen Neumünster ließ sie sich für die positiven Aussagen zur Flüchtlingsproblematik feiern, holte gar einen Syrer, der ihr zum Dank einen Blumenstrauß überreichen wollte, auf die Bühne und verweigerte auch das gemeinsame Foto nicht.
Doch dieses freundliche Gesicht, das im Norden begeistert aufgenommen wurde, hielt nicht vor bis ins baden-württembergische Heidelberg, wo ein geflüchteter Zehnjähriger – diesmal ein Afghane – zwar auch Blumen überreichte, aber dennoch vor der Abschiebung steht. Mehr noch, der dortige CDU-Landesvorsitzende und Merkel-Stellvertreter in der Bundespartei, Thomas Strobl, hat gerade für die weitere drastische Verschärfung des Abschieberegimes plädiert, was er eine Politik »mit Herz und Härte« nannte und worüber seine Chefin kein kritisches Wort verlor, wohl auch, weil sie gleichzeitig aus dem Saal mit Rücktrittsforderungen konfrontiert wurde.
Beiden Positionen gerecht zu werden, ist ein schwieriger Spagat. Doch könnte er den Christdemokraten einmal mehr gelingen – einer Partei, die im Zweifel den Machterhalt über alles andere stellt. Es ist also durchaus zu erwarten, dass die Parteitagsdelegierten der derzeit wohl tatsächlich alternativlosen Kanzlerkandidatin erneut mit wenigstens zehn Minuten Applaus – wie vor zwei Jahren in Köln – huldigen und auch bei der Vorsitzendenwahl wenn überhaupt, dann nicht wesentlich unter den damaligen 96,72 Prozent bleiben. Ob das dann angesichts der Verunsicherung innerhalb der CDU als Motivation für den von der CSU angesagten Wahlkampf »auf Biegen und Brechen« ausreicht, steht freilich auf einem anderen Blatt.